Eine Stunde mit Friedrich Merz

Bei seinem Auftritt am Donnerstagabend in Berlin gab Friedrich Merz zwar nicht seine Kandidatur für den CDU-Vorsitz bekannt. Aber mit seiner politischen Agenda ließ er keinen Zweifel daran, dass er sich die Führung der Partei und des Landes zutraut. Von Alexander Marguier

Will er oder will er nicht? Erwartungsgemäß war das die Frage der Stunde, als Friedrich Merz am Donnerstagabend seinen großen Auftritt im „Ballhaus Berlin“ hatte. Gastgeber war das „Forum Mittelstand“, und Merz hatte diesen Termin natürlich schon lange vor der Rückzugsankündigung Annegret Kramp-Karrenbauers von der CDU-Parteispitze zugesagt. Doch seit Montag ist das Rennen wieder offen, entsprechend groß war das Interesse an der Veranstaltung. Tatsächlich platzte das plüschige Ballhaus mit seinen Retro-Tischtelefonen aus allen Nähten: Mehrere Fernsehteams waren gekommen, die Fotografen drängelten sich vor dem Stargast – und etliche begeisterte Jungunionisten hielten Schilder mit der Aufschrift „Ein Herz für Merz“ in die Kameras.

Regelrechte Partystimmung

Trotz regelrechter Partystimmung ließ sich Friedrich Merz allerdings nicht aufs Glatteis locken. Der Moderator Nikolaus Harbusch von der Bild-Zeitung versuchte seinem Gesprächspartner zwar ein ums andere Mal das Bekenntnis zu einer Kandidatur für den Parteivorsitz zu entlocken, doch Merz blieb hart: „Wir führen jetzt Gespräche mit der Parteivorsitzenden“ (mit „wir“ dürften Armin Laschet und Jens Spahn gemeint gewesen sein); er selbst sei für die nächste Woche mit AKK verabredet. Ansonsten wiederholte Merz sein Mantra von wegen: Er wolle seinen Beitrag leisten. Und zwar dazu – das klang dann doch einigermaßen dramatisch –, „dass es mit der Union weitergeht“. Tatsächlich sieht Friedrich Merz seine Partei in einer existentiellen Krise: „Die Union ist in einer ähnlich gefährlichen Lage wie die SPD.“

Als Harbusch abermals insistierte, Merz möge jetzt endlich seine Kandidatur verkünden und dies halb drohend mit der Bemerkung verband, anderenfalls würde sich sein Image als Zauderer verfestigen, war zunehmender Unmut im Publikum zu verspüren: „Sachthemen!“, riefen etliche Zuschauer und spendeten Applaus, als Merz eine spöttische Bemerkung über die Bild-Zeitung fallen ließ. Jedenfalls blieb er bei seiner Linie und beteuerte, die akut äußerst schwierige Lage der CDU erfordere, „dass wir ein paar Tage in Ruhe nachdenken“. Noch ein paar Würfe habe die CDU bei ihrer Personalentscheidung nämlich nicht frei, so Merz. Sprich: Der nächste Parteivorsitzende muss es wuppen, sonst droht der Untergang.

„Streitkultur stark beschädigt“

In seinem Eingangsstatement präsentierte sich Friedrich Merz erkennbar staatsmännisch. Nach ein paar flapsigen Bemerkungen über „weibliche“ Tiefdruckgebiete („Merz ätzt gegen AKK“ heißt es heute dazu groß in der Bild-Zeitung) und dem relativierenden Hinweis, im nächsten Jahr würden Schlechtwetterereignisse turnusgemäß wieder mit männlichen Vornamen belegt, ging es zur Sache. Ausgehend von den aktuellen Ereignissen in Thüringen beteuerte Merz, eine Zusammenarbeit mit der AfD komme für die CDU nicht in Frage. Allerdings müsse man sich die Frage stellen, warum die AfD überhaupt so groß habe werden können. „Die Große Koalition hat die politische Streitkultur in der Mitte stark beschädigt“, konstatierte Merz. In der anschließenden Fragerunde machte er klar, dass man dem Rechtspopulismus auch durch eine klare Durchsetzung rechtsstaatlicher Prinzipien Herr werden könne.

Nicht der AfD das Feld überlassen

„Der Staat darf niemals vor politisch motivierter Gewalt zurückweichen“, so Merz, und zwar unabhängig davon, aus welcher Richtung die Gewalt komme: „Was wäre, wenn es anstatt der Roten Flora die Braune Flora gäbe“, sagte er mit Blick auf die Laxheit des Staates gegenüber der autonomen Szene und besetzten Häusern. Auch in der Migrationsfrage brauche die Politik „eine stringente und schlüssige Antwort“, wolle man nicht der AfD das Feld überlassen. „Was machen wir denn, wenn es nochmal zu großen Flüchtlingsbewegungen kommt?“, fragte Merz und kritisierte den Mangel einer entsprechenden Strategie. Hier sei seine Partei gefordert.

Friedrich Merz berichte davon, in seiner Heimatstadt seien Lehrerinnen der örtlichen Schule an ihn herangetreten und hätten sich über zunehmende Respektlosigkeiten von Schülern aus dem muslimischen Kulturkreis beklagt. Über solche Entwicklungen müsse man offen reden können, anstatt die Probleme zu verschweigen. Vollverschleierung, wie sie jetzt auch an Schulen und Universitäten statthaft sein soll, ist für Merz ein Unding und mit den Leitlinien einer offenen Gesellschaft inkompatibel. Burka und Niqab nannte er ein „Symbol der Unterdrückung der Frau“ und äußerte sein Unverständnis darüber, dass ausgerechnet die Grünen in diesem Punkt kein Problembewusstsein hätten. Für Merz ist es an der Zeit, in Deutschland den „kulturellen Umgang“ miteinander auszubuchstabieren: „Wenn wir solche Fragen nicht ansprechen, tun es andere – und dann wird es nicht besser.“ Für solche Aussagen erntete er im „Ballhaus Berlin“ zuverlässig großen Applaus.

Politik zu sehr mit sich selbst beschäftigt

Mit Blick auf die internationale Politik und insbesondere den zunehmenden Einfluss Chinas sprach Merz von „einer empfundenen Führungslosigkeit“ (gemeint waren wohl Deutschland und die EU), welche ebenfalls zu einem „Erstarken der politischen Ränder“ führe. Zwar seien die vergangenen anderthalb Dekaden gute Jahre für Deutschland gewesen, dennoch stünden jetzt wichtige Entscheidungen an. Man müsse, so Merz, den Blick nach vorn richten und sich klar darüber werden, wer man sei und welche Rolle man in der Welt spielen wolle. Die Politik in Deutschland sei da viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt.

Europa benötigt Merz zufolge dringend eine eigene digitale Infrastruktur; den Klimawandel nannte er ein „ernsthaftes Problem“, das sich aber nur mit der Industrie und nicht gegen die Interessen des Industriestandorts Deutschland lösen lasse. Seine Partei dürfe in dieser Frage „nicht den anderen“ (also Fridays for Future oder den Grünen) hinterherlaufen, sondern müsse eigene Lösungsansätze erarbeiten. Auch müsse man sich ernsthaft überlegen, wie Deutschland seinen „exponentiell steigenden Strombedarf“ in Zukunft decken wolle. Alle diese Fragen erforderten „eine Partei, die nicht durch Personaldebatten, sondern durch Sachdebatten“ in Erscheinung trete.

Schärfung des inhaltlichen Profils

Das Hauptanliegen von Friedrich Merz ist die Schärfung des inhaltlichen Profils seiner Partei, nur so kann ihm zufolge die CDU ihre zunehmende Marginalisierung aufhalten und rückgängig machen. Es gehe ihm nicht um einen „Blick zurück im Zorn“, sondern darum, mit Enthusiasmus, Sachkompetenz, politischer Führung und Freude an guter Politik in die Zukunft zu gehen. Sein Anliegen sei es auch nicht, der AfD nach dem Mund zu reden, sondern von dort jene Wähler zurückzugewinnen, die guten Willens seien, sich „von der CDU aber schlicht nicht mehr vertreten fühlen“. Auf die Frage, ob bei solch einem Kurs nicht die Gefahr bestehe, Wähler an SPD oder Grüne zu verlieren, antwortete Merz lakonisch: „Wir liegen derzeit bei 22 Prozent – viel zu verlieren haben wir da nicht. Dafür aber viel zu gewinnen.“

Auch ohne eine Kandidatur für den Parteivorsitz zu verkünden, hat Friedrich Merz am Donnerstagabend im „Ballhaus Berlin“ unmissverständlich klar gemacht, dass er sich die Führung nicht nur der CDU, sondern auch der Bundesregierung zutraut. Ob das die anderen Funktionsträger in seiner Partei auch so sehen, wird sich in den nächsten Wochen zeigen.