Erzbistum Köln: Erschrecken­des Gut­ach­ten zu Miss­brauchs­opfern

  • vonAstrid Theil

Vertrauenskrise: Ein neues Gutachten enthüllt, dass es im Erzbistum Köln deutlich mehr Missbrauchstäter- und opfer gab, als bisher angenommen. Nun äußert sich der Kardinal.

Update vom 21. Februar, 9.30 Uhr: In einer Videobotschaft hat sich der Kölner Kardinal Rainer Maria Woelk zu seinen Fehlern bei der Aufarbeitung von Missbrauchsvergehen geäußert. Das Video wurde am Samstag veröffentlicht. Er habe durch das Zurückhalten des Gutachtens zu den Vorwürfen des sexuellen Missbrauchs von Kindern (siehe Erstmeldung) durch Priester Schuld auf sich geladen. „Das tut mir von Herzen leid“, sagte er. „Es ging und es geht mir um konsequente Aufarbeitung.“ Sein Vorgehen hat zu einer schweren Vertrauenskrise im größten deutschen Bistum geführt.

„Sie tun sich schwer, nachzuvollziehen, warum es eine zweite unabhängige Untersuchung braucht, um die systematischen Zusammenhänge jahrzehntelangen Missbrauchs in unserem Erzbistum aufzudecken und im Detail aufzuzeigen“, berichtete Woelki über Reaktionen Gläubiger in den vergangenen Wochen und Monaten. Er sei aber überzeugt, dass dies erforderlich sei, weil er „eine bestimmte qualitative und quantitative Faktenlage“ benötige. Die Kanzlei, die das erste Gutachten erstellt hat, weist alle Vorwürfe zurück. „Es war und ist meine Absicht, eine transparente, konsequente Aufklärung der Missbrauchsvergehen und ihrer systemischen Umstände in unserem Erzbistum zu erreichen – selbstverständlich auch im Blick auf meine eigene Person“, so der Kölner Kardinal.

Erzbistum Köln unter immenser Kritik – Kardinal hielt entscheidendes Gutachten zurück

Erstmeldung vom 20. Februar, 12 Uhr: Köln – Das Erzbistum Köln steht unter starkem Druck. Die Zahl der Missbrauchstäter und -Opfer ist nämlich wesentlich höher als bisher angenommen. Einem Vorabbericht des Spiegels folgend kommt der Gutachter Björn Gercke, der von Kardinal Rainer Maria Woelki beauftragt wurde, auf rund 300 Betroffene und 200 Beschuldigte seit 1975. Der Gutachter Gercke teilte dem Kölner Stadt-Anzeiger mit, dass die im Spiegel vorab veröffentlichten Zahlen des Gutachtens die „abschließenden Zahlen sein dürften“.

Die zuvor in Auftrag gegebene und im Herbst 2018 vorgestellte Missbrauchsstudie der deutschen Bischöfe führte für das Erzbistum Köln lediglich 135 Betroffene und 87 beschuldigte Geistliche für den Zeitraum zwischen 1946 und 2015 auf. Das neue Gutachten soll am 18. März vorgestellt werden. Die Untersuchung umfasst den Zeitraum bis 1975 und damit die Amtszeiten der Kardinäle Joseph Höffner (Erzbischof von 1969 bis 1987), Joachim Meisner (1989 bis 2014) und Woelki (seit 2014). 

Scharfe Kritik: Untersuchung wird vor Öffentlichkeit zurückgehalten

Das Gutachten wertet laut Informationen des Spiegel über 300 Verdachtsmeldungen und 236 Aktenvorgänge aus. Auch der Fall eines Priesters, der in den 1980er Jahren in einem Internat im Erzbistum Köln wegen sexuellen Missbrauch beschuldigt wurde, wird in dem Gutachten aufgeführt. Der betroffene Priester wurde trotz der Missbrauchsvorwürfe später als Pastor und Jugendseelsorger eingesetzt und soll sich 2002 gegenüber einer Teenagerin sexuell übergriffig verhalten haben. Trotz der zahlreichen Vorwürfe wurde er erst 2017 von Kardinal Woelki in den Ruhestand verabschiedet.

Darüber hinaus wird Kritik über die Tatsache laut, dass das Erzbistum Köln eine zuvor bei der Münchner Kanzlei Westpfahl Spilker Wastl (WSW) beauftragte Untersuchung über den Umgang von Bistumsverantwortlichen mit Fällen sexualisierter Gewalt noch nicht veröffentlicht hat. Woelki hält diese bisher zurück, da sie nach Ansicht einiger Juristen „methodische Mängel“ aufweise und deswegen nicht rechtssicher sei. Laut Informationen des „Kölner Stadt-Anzeigers“ identifiziert das Gutachten aus München rund 230 Beschuldigte und mehr als 270 Opfer.

Scharfe Reaktion: Server wegen enormer Nachfrage nach Kirchenaustritten zusammengebrochen

Mit einer Konsequenz dieser Nachrichten sah sich das Bistum Köln bereits am gestrigen Tag (19.02.2021) konfrontiert: Die Nachfrage nach Terminen für Kirchenaustritte war am Freitag derart hoch, dass der Server des Amtsgerichts Köln zusammengebrochen ist. Das Gericht teilte gestern mit, dass die Buchungsseite nicht mehr aufrufbar sei. „Ich kann ihnen sagen, dass wir mehr oder weniger 5000 Zugriffsversuche hatten“, sagte ein Sprecher des Amtsgerichts Köln am Freitag. Über die Kirchenaustritte berichtet auch 24rhein.de*.

Katholische Kirche in der Kritik: Immer mehr Kirchenaustritte

Bereits in den vergangenen Wochen war die Nachfrage nach Kirchenaustritten rasant gestiegen – für viele Katholiken scheint der Krichenaustritt ein Jahresvorsatz gewesen zu sein. Wegen der gestiegenen Nachfrage hatte das Gericht die Zahl der buchbaren Termine bereits von monatlich rund 1.000 auf 1.500 erhöht. Am Freitag wurden um 10.00 Uhr zusätzliche Termine für die Monate März und April auf der Online-Seite freigeschaltet. Es wollten scheinbar so viele Menschen auf dieses Angebot zugreifen, dass die Server zusammenbrachen.

Die Debatte über die mangelhafte Missbrauchsaufarbeitung im Erzbistum Köln zeigt offenbar Wirkung. Die Zahl der Kirchenaustritte ist in den vergangenen Jahren gestiegen. 2020 kehrten laut Amtsgericht 6.960 Kölner den Kirchen den Rücken und im Jahr davor 10.073. Die Behörde verzeichnete 7.618 Austritte für 2018, 6.174 für 2017 und 5.759 für 2016. (dpa/at) *Merkur.de und 24rhein.de gehören zum Ippen-Digital-Netzwerk.